Freitag, 18. August 2023

Briefe an einen Unbekannten -9-

Insignen

Lieber Opa, lieber Großvater,

heute nehme ich mir eines der Fotos aus dem Album vor, das nur Dich darstellt. Du liest richtig – es stellt Dich dar! Und es gibt mir Rätsel auf. Du seist ein „gern anerkannter Leiter und Führer gewesen“, so schrieb Robert Nacke 1911 in Deinem Abschlusszeugnis, das er Dir ausstellte, als Du den Hof verlassen hast, um Soldat zu werden. Vielleicht wärest Du ohne den Krieg noch länger bei ihm in Stellung gewesen. 

Das Foto hat Eigenschaften von einem Kunstwerk. War diese Zurschaustellung Deine Entscheidung oder hat der Fotograf Dich aufgefordert, diese Haltung einzunehmen? Wurde er bestellt? Wie entstand das Album? War es Robert Nackes Abschiedsgeschenk an Dich? Ich kann nur interpretieren, bekomme aber keine Antworten.

 Jeder sieht auf diesem Foto, dass Du im Rang Deinem Arbeitgeber näher gestanden hast als den Helfern, die den Hof bevölkerten. Du hattest ihnen vermutlich die Aufgaben zuzuteilen. In einem späteren landwirtschaftlichen Kalender, der möglicherweise sogar Dir zuzuordnen ist, habe ich mal gelesen, welcher Helfer wie viel Zeit gearbeitet hat. Danach wurde dann vermutlich der Lohn berechnet. Ob Du diese Verwaltungsaufgabe, die Lohnauszahlung, wohl auch zu regeln hattest? Selbstbewusst schaust Du in die Kamera. Du bist ein Herr, das wird unterstrichen durch den Stock. Er macht Dich zu einem vornehmen Menschen. Er sieht aus wie eine Insigne der Herrschaft, ein Ausdruck von Würde, denn als Gehstütze wird er Dir in Deinem jungen Alter von 20 Jahren sicher nicht gedient haben. Und ob Du ihn zum Treiben von Vieh auf die Weide benutzt hast, das wage ich zu bezweifeln. Dazu kann man eine einfache Gerte benutzen. 

Du hast Wert auf ein vornehmes Auftreten gelegt. Selbstbewusst schaust Du zur Kamera hin. Du weißt, dass Du abgelichtet wirst. Du trägst eine Arbeitsjacke, doch darunter ein feines weißes Hemd mit hohem Kragen und Krawatte. Fast wirkt es so, als ob der Kragen Deine moralische Gesinnung stärkt, indem er Dich zwingt, den Kopf aufrecht zu halten. 

Auch Deine Stiefel zählen zu den Zeichen des höher Stehenden, der den anderen Aufgaben zuteilt. Keiner

der Hofhelfer und -helferinnen auf den Albumfotos trägt solche feinen Stiefel. Sie alle tragen derbe Halbschuhe oder Holzschuhe, die ihre Füße bei der schweren Feldarbeit schützen. Bei manchen Arbeiten gingen sie sogar barfuß, vor allem die Kinder, wie ich auf manchen Fotos sehe. In solchen Stiefeln mit kniehohem Schaft hingegen sieht man große Männer Deiner Zeit oft auf die Art stehen, wie Du es tust. Ein Bein vorgestellt, in der rechten Hand eine Insigne ihrer Macht. So ließ sich schon Kaiser Wilhelm II. 1877 als Abiturient in Kassel ablichten. Zeugte diese Haltung von Selbstbewusstsein, das Dir zueigen war oder hast Du es damit nur äußerlich vorgetäuscht? 

Hast Du Dir Kleidung und Haltung von anderen abgeschaut und wenn ja, wer waren Deine Vorbilder? War es gar Robert Nacke selbst, der auf einem Foto ähnlich aufrecht steht - mit Stock wie Du?

Ach könnte ich doch einfach mal für kurze Zeit in Deine Haut schlüpfen – ganz kurz nur …

 

Liebe Grüße für heute, Deine Enkelin


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