Freitag, 28. Juli 2023

Briefe an einen Unbekannten -2-

 Annäherung

W. B. 1920
Lieber Großvater,

heute schreibe ich Dir meinen zweiten Brief, zu dem mir eine genaue Adresse für den Umschlag fehlt. Wohin soll ich ihn schicken? Wo wohnst Du? Dem Raum-Zeitlichen als Körper entflohen bist Du. Lange, bevor ich die irdische Seinsebene betrat. Und doch bist Du in dieser unsichtbaren Form, wenn ich überhaupt von Form sprechen darf, im Irdischen präsent. Gerade jetzt. Durch mich. Deine Gene sind Teil meines Körpers. Sie verändern die Welt. Die irdische Welt. Durch mein Tun. 

Dass Du durch mein Schreiben mein Gegenüber wirst, das diesen Brief zu lesen bekommt, findet nur in meinem Herzen statt. Und das nicht einmal durch Erinnerungen, die ich an Dich habe, sondern durch einen – wie soll ich es nennen – schriftstellerischen Kunstgriff: Ich setze meine innere Vorstellung von Dir an einen fiktiven Ort im Jetzt, wo ich Dich den Brief öffnen sehe. Ja, so kann es gehen.

Bereits mit meinem ersten Brief habe ich beschlossen, der Welt zu zeigen, wer Du warst. Zumindest in dem Rahmen, der sich meinem Nachforschen erschließt. Es sind zunächst nur sehr wenige nebulöse mündliche Überlieferungen eines Mannes, der Dich nur 15 Jahre lang kannte. Mein Vater. Es sind zudem Hinterlassenschaften, die mein Vater aufgehoben hat und die ich nach dem Tod meiner Eltern von ihrem Dachboden mitnahm. 

Dein Sohn, lieber Großvater, er ist schon seit nunmehr 11 Jahren in Deine Seinsebene getreten. Es geht ihm wohl recht gut, denn einmal erschien er mir von dort und erklärte mir, wo er sich befindet und wie das ist, wenn man gestorben ist. Ich werde es nie vergessen! Diese Begegnung hatte etwas Finales und öffnete mir ein riesiges Tor zu ihm. Das Tor zum Licht – das IN UNS IST.

Dir dagegen nähere ich mich anders. Stück für Stück und mit faszinierendem Erfolg! Es ist so faszinierend, dass ich der Welt davon erzählen möchte. Ja, ich möchte der Welt erzählen, wie Du mir mehr und mehr vertraut wirst. Ich habe doch keinen anderen Weg, als in den alten Sachen zu kramen, sie in die Hand zu nehmen, zu fühlen. Als könne ich mit geschlossenen Augen die Welt sehen, in der Du gelebt und gewirkt hast.

Im ersten Brief zeigte ich der Welt, wie großen Wert Du auf Disziplin legtest. Du hattest – mit einem Nachwort von Oma – Deinem 14-jährigen Sohn einen Geburtstagsbrief geschrieben. Zu dem Zeitpunkt hattest Du Deinen 50. Geburtstag schon eine Weile hinter Dir und somit schon viel Lebenserfahrung. 

Vielleicht warst Du gerade in einer – wie man es heute nennen würde – Midlifecrisis und hofftest, dass zumindest Dein einziger Sohn Deine noch unerfüllten Lebensträume realisieren würde. Von Landwirtschaft war darin nicht die Rede. Was vermutlich mit Deinen eigenen Erfahrungen zusammenhing. Davon wird noch die Rede sein.

Ich möchte Dir nun in der kommenden Briefserie erzählen, wie es mir gelingt, Dir – Opa – mehr und mehr näherzukommen. Es wird sehr spannend. Wart’s ab …

In unsichtbarer Liebe,

Deine (einzige) Enkeltochter


2 Kommentare:

  1. Es ist schon erstaunlich, wie vertraut dein Opa mir schon geworden ist und dabei habe ich bis vor ein paar Wochen noch nicht einmal von seiner Existenz gewusst.
    Und wo ich jetzt gerade das kleine Foto vor dem Kommentar von mir sehe, fällt mir ein, dass es vor vielen Jahren mal am Nacketeich entstanden ist, also wahrscheinlich genau an einer Stelle, an der er auch Mal gestanden hat....
    Ich bin schon sehr gespannt, was du noch an und über ihn schreiben wirst.

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  2. Derzeit findet so viel Altes wieder zurück in die Gegenwart (und von damals aus "Zurück in die Zukunft" - war das nicht mal ein Buchtitel von Erich von Däniken?). Und vieles davon - das weißt Du ja - hat auch mit der Entwicklung technischer Möglichkeiten zu tun. Das hätte sich damals niemand vorstellen können. Und an dieser speziellen Geschichte bist Du natürlich beteiligt ... es wird nicht nur eine Briefserie, sondern auch ein wahres Märchen, an dem eine Rosenfee mitgebastelt hat. 😉👍🏼 Ich find's gerade wieder total spannend!

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