Montag, 31. Juli 2023

Briefe an einen Unbekannten -3-

Der erste aufschlussreiche Fund

Lieber Opa,

da Du mir langsam immer vertrauter wirst, möchte ich Dich jetzt so ansprechen wie ich meinen anderen Opa angesprochen habe. Ihm gebührte derzeit ja als Einzigem diese Ansprache, da Du für mich quasi nicht existiertest. Ich brauchte keine Unterscheidung zwischen Opa H. und Opa W., denn ich kam als Kind niemals auf die Idee, Dich anzusprechen. Warum eigentlich nicht? Wenn ich mich in die Zeit zurückfühle, dann warst Du weit weit weg und wie hinter einer Mauer verborgen. Hinter einer Mauer des Schweigens. Hinter einer Mauer, die nun Risse bekommt und die ich in ein Geschichtenhaus umwandle, in dem Du jetzt noch einmal wohnen darfst. Dort besuche ich Dich und erzähle Dir, wie ich Dein Haus in meinem Herzen aufgebaut habe und noch weiter aufbaue. Ja, stell Dir mal vor, Du bekommst nochmal einen ganz neuen Weg hierher. Davon zu erzählen, ist für mich eine große Freude. 

Wie fing das eigentlich an? höre ich Dich jetzt fragen.

Nun … am Anfang stand der Himmelsgang Deiner Schwiegertochter, meiner Mutter. Dein Sohn war schon neun Jahre früher ins Unsichtbare gegangen und ich hatte die Aufgabe, das Haus meiner Eltern auszuräumen, um es für einen Verkauf vorzubereiten. Bei der Aktion musste ich streng sortieren. Fokussierte mein Bruder, Dein einziger Enkel, sein altes Spielzeug, das er als Nostalgiker sehr wertschätzte, waren es für mich alte Dokumente, die mir würden erzählen können, wie meine lieben Ahnen gelebt und gewirkt haben.


So kamen einige Kartons, Ordner und Kästen zu mir nach Hause. Ich hatte in der Phase gar keine Zeit, mich damit zu befassen, gönnte mir nur abends nach getaner anstrengender Räumarbeit immer wieder mal ein Bonbon aus dem Mitgenommenen. 

 


Ich empfand dieses Stöbern darin spannender als einen guten Krimi. Es ließ mir die Haut kribbeln, manche Zusammenhänge besser verstehen und sehr viel Respekt vor dem Tun von Euch Altvorderen entwickeln. Was für harte Zeiten!

So kam es, dass ich an einem Abend diesen Brief an Deinen Sohn entdeckte, von dem ich Dir schon erzählte. An einem späteren Abend fand ich ein Zeugnis von Dir. Ich weiß nicht mehr, in welcher Kiste oder in welchem Ordner. Aber ich weiß noch, wie sehr mich der Text dieses Zeugnisses beeindruckte. Geschrieben hatte es der Besitzer eines Bauernhofes, bei dem Du für zwei Jahre als Verwalter eingestellt warst. Ich drehe den Kalender zurück und lande in der Spanne von 1909 bis 1911. Als im Jahr 1890 Gebürtiger warst Du in der Zeit rund 20 Jahre alt. Ich staune! Als Zwanzigjähriger hast Du quasi als rechte Hand eines Landwirts dessen Hof verwaltet! Und dann das Zeugnis … ich zitiere:

Herr B. hat in dieser Zeit unter meiner Leitung dem Betrieb vorgestanden und mich zeitweise vertreten. Nebenher war er noch Vorgesetzter von fünf anderen jungen Herrn, die hier die Landwirtschaft lernten. Ich muss Herrn B. in jeder Beziehung das beste Zeugnis ausstellen …

Dabei fällt mir Dein Geburtstagsbrief wieder ein: Disziplin, Leistung, Bester werden … warst das Du? War es die Zeit? Mit dieser Frage schließe ich heute … 

Deine Enkeltochter

 

Leser und Leserinnen äußerten sich zu diesem Brief:

Beeindruckend, was du da einerseits in alten Dokumenten erfahren darfst und andererseits, was du in deinen Geschichten weiter ver- und bearbeitest! Ich wünschte, es gäbe irgendwo auch von meinen (unbekannten) Großeltern alte Briefe, Dokumente usw. Gerne würde ich mehr über sie erfahren ... (p)

Es ist sehr eindrücklich und bewegend, wie Du von Deinem Opa erzählst. (T. L.)

Ein schöner posthumer Kontakt sozusagen. (lh)

Ein altes Dokument, aus dem du eine bewegende Geschichte spinnst ... (S. M. W.)

Einfach schön, was du alles findest und so einfühlsam schreibst. (C. S.-S.)

Sehr schön beschrieben, wie du dich deinem fernen Großvater näherst und er schließlich doch noch zu einem Opa wird! (r)

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