Freitag, 13. Oktober 2023

Simone, du bist ein Schatz!

Da ist er wieder, dieser magische Moment, wieder spüre ich dieses Kribbeln auf der Haut, die Spannung im Brustkorb, während eine Frage aus den Tiefen meiner Seele auftaucht:

Welches Geheimnis ist hinter dieser schlichten grauen Pappe mit den sieben roten Siegeln versteckt?

Das passiert, während ich auf dem Dachboden meines Elternhauses krame. Schon seit Wochen wühle ich Kisten und Truhen durch, sortiere Kartons, sichte alles, was mein Vater dort oben gestapelt hat. Und das ist viel. Es sind Unmengen von Zeitschriften, Büchern, Schallplatten, Musikkassetten, Videobändern, Kalendern, Spielzeug, Briefen, sogar Wohnutensilien aus der Wohnung, die wir bewohnt haben, bevor das Eigenheim gebaut wurde. Ein ganzes gelebtes Leben breitet sich vor mir aus, stapelt sich zu Türmen gesichteter Kartons, soll sich aus dem Haus bewegen. Alles, ja, wirklich alles haben sie aufbewahrt, meine Eltern. Sogar noch Nachlassgegenstände ihrer eigenen Eltern.

Ich wollte das gar nicht alles durchsehen. Doch nachdem ich hier und da Dinge entdeckt hatte, die mir richtig unter die Haut gingen, hatte mich fast eine Sucht gepackt. Und dieser Sucht zu folgen, lohnte sich. Wenn es auch schrecklich anstrengend war.

Und nun dieser geheimnisvolle graue Ziegelstein inmitten von verstaubten Büchern, die sicher niemand mehr würde lesen wollen. Ich schaute nicht hinein. Ein Bauchgefühl sagte mir, dass ich diesen Schuber mit der eigenwilligen Botschaft mitnehmen MUSS! Was einmal mit sieben Siegeln verschlossen war, dem wollte ich ganz in Ruhe zuhause meine Aufmerksamkeit widmen.

So erschuf ich mir an jenem Tag bis zum Abend eine gehörige Spannung, die sich in einem Moment tiefer Seelenfreude lösen sollte.

Ich hatte nach dem langen und anstrengenden Sortieren und Ausmisten auf dem alten, muffig riechenden Dachboden meines Elternhauses bei mir zuhause geduscht, eine Kleinigkeit gegessen und zog mich dann mit dem schweren grauen Schuber in mein Zimmer zurück. Und nun lag er vor mir. In der unteren rechten Ecke hatte mein Vater für meine Mutter mit dunkler Tinte und in Blockbuchstaben eine kleine Widmung geschrieben:

„VIEL GLÜCK – MEHR ERFOLG – SEHR VIEL LIEBE – Dein O. – Januar 1952“

Zu der Zeit war ich noch nicht auf der Welt, meine Eltern waren 22 und 23 Jahre alt, ein unverheiratetes Liebespaar. Was mochte nur in dem Karton stecken? Vorsichtig öffnete ich die Seitenklappe, zog ein dickes Buch heraus und schaute auf den Titel:

„Das andere Geschlecht – Sitte und Sexus der Frau“

Ein Buch mit sieben Siegeln? Und dann das? Man kennt das Buch mit sieben Siegeln aus der Bibel. Dort steht es für die Offenbarung des Johannes im Neuen Testament. Nur Jesus in Gestalt des unschuldigen Lammes konnte es öffnen. Durch das Öffnen jedes einzelnen Siegels wird eine Plage ausgelöst, die in Summe in der Apokalypse enden. Erst dann, so sagt die Bibel, beginne eine friedliche Zeit, in der kein Mensch mehr Herr über einen Menschen sein wird.

Was für eine frohe Verheißung!

Das ANDERE Geschlecht … wer hat denn das geschrieben? denke ich.

Ich lese den Namen der Autorin und plötzlich steigt etwas in mir hoch. Eine Erinnerung. Sie ist mir keine Unbekannte. Es ist Simone de Beauvoir, die französische Schriftstellerin und Philosophin, die mit ihrem Gedankengut den Feminismus gestärkt hat. Als Partnerin von Jean-Paul Sartre hat sie sich dem „anderen Geschlecht“, der Frau, besonders aus Sicht der Philosophie genähert.

Dann fällt ein Blättchen aus dem Schuber, das wie zu einem Heft gefaltet ist. Auf der Vorderseite wieder eine kleine Widmung: „Meiner H. zugeeignet.“ Ich lese den wiederum in Blockbuchstaben und mit Füller geschriebenen Brief an meine Mutter, aus dem ich hier Auszüge wiedergebe:

„OFFEN GESTANDEN HAT MICH DIESES BUCH EINIGER STUNDEN SCHLAFES BERAUBT. ICH WERDE DIESEN STUNDEN NIE NACHTRAUERN! HABE ICH DOCH DAFÜR EINEN EINBLICK IN FAKTEN UND MYTHEN ERHALTEN, ÜBER DIE ICH MIT DIESER GRÜNDLICHKEIT NACHZUDENKEN MICH NOCH NIE ANGESTRENGT HAB! …

WAS SIMONE DE BEAUVOIR HIER ÜBER SITTEN UND SEXUS DER GESCHLECHTER – NICHT NUR ÜBER DAS DER FRAU – ALS EXISTENZIALISTIN DARGELEGT HAT, BESITZT WOHL ALLGEMEINGÜLTIGKEIT UND DÜRFTE FÜR UNS BEIDEN AUCH VON INTERESSE SEIN. MAN KÖNNTE IN VERSUCHUNG GERATEN, SICH IHREN WORTSCHATZ ANZUEIGNEN!

MEIN SCHATZ – EIN BUCH FÜR DICH – UND GANZ BESONDERS FÜR DICH UND MICH! HAST DU ERST BEGONNEN, ES ZU LESEN – KOMMST DU DAVON NICHT LOS:

Dein O.“

Und nun stecke ich beim Lesen des Buchs schon mitten in der Einleitung und bin ganz ergriffen von de Beauvoirs Darstellungen über das damalige Weltbild von der Frau, einem Weltbild, zu dessen Wandel sie mit beigetragen hat. Und auf einmal habe ich das Gefühl, mein Vater habe das Buch mir geschenkt. So wie ich meine Mutter kannte, gehe ich davon aus, dass sie es nie wirklich gelesen, zumindest nicht durchgelesen hat. Ihre Lebensdevise war: Mit solchen Sachen kann ich nichts anfangen. Ich bin ein praktischer Mensch.

Der Philosoph in unserer Familie war mein Vater. Und ich habe durch ihn sicher mehr davon mitbekommen, als meine Mutter es von sich aus in ihrem Wesen hatte.

Dieses Buch werde ich ganz durchlesen, das steht fest! Danke, Simone, du bist ein Schatz!

Vielleicht schaffen wir es ja doch noch in dieser Menschheitsgeschichte, die demütigenden Betrachtungsweisen zwischen Gruppierungen zu überwinden. Dazu bedarf es der Selbstannahme, der Selbstliebe, der Akzeptanz. Denn – wie heißt es in der Bibel: „Liebe deinen Nächsten WIE dich selbst.“

Nimm den HIMMEL an. In JEDEM Menschen! Und IN ALL-em, was IST. HIER und JETZT …

© Ulrike Nikolai 2023

Fernseeen? – Issam piepen!


Unser erster Fernseher stand im heiligen Wohnzimmer. Heilig? Warum heilig? Heizöl war teuer für eine junge Familie in den 50er-Jahren. Eine Zentralheizung gab es nicht. Und wenn irgendwo geheizt wurde, dann in der Küche. Dort stand der Kohleofen, dort fand das alltägliche Leben statt. Kochen, essen, abwaschen und dazu das gehasste Abtrocknen, spielen, Hausaufgaben machen, nähen, bügeln. Mutti und ihre zwei Kinder, bis Vati abends von der Arbeit nach Hause kam.

Aber am Sonntag! Der Sonntag, ja, das war damals noch der Ausnahmetag. Heilig wie das Wohnzimmer, das die ganze Woche über kalt blieb. Aber am Sonntag wurde es geheizt. Mit einem Ölofen, der mich fast umgebracht hätte – aber das ist eine andere Geschichte.

Endlich kam dann der erste Fernseher! Ein dicker fast würfelförmiger Quader aus braunem Holz mit einem in allen vier Ecken abgerundeten Bildschirm in Eitergrün, jedenfalls, so lange er nicht lief.

 

Wenn er aber lief …

zuerst kam ein eklig in die Ohren stechender Piepton. “Fernseeen? – Issam piepen!”, jubelte mein kleines Bruderherz. Er war der Erste, der’s merkte. Er war drei und so fixiert auf dieses Geräusch, das lustig-bewegte Bilder versprach – schöner als jedes Bilderbuch, das Mutti oder Schwesterherz ihm vorlasen – dass seine netten Kinderaugen bei dem Wort „piepen“ weit aufgingen und seine Augen zu leuchten begannen. Kurz darauf spiegelte sich in ihnen das Testbild der Flimmerkiste. Spätestens dann waren wir vom Bildschirm nicht mehr fortzubewegen. Nichts konnte schöner sein.

1960 war’s und für uns nur erlaubt oder nicht erlaubt. Wir mussten fragen. Ich begann gerade erst mit dem Lesen und mein Brüderchen konnte in der HÖRZU bestenfalls die Bilderchen erkennen, die auf das Erlaubte hinwiesen.

Es gab “Lassie”, den wunderschönen Langhaarcollie, der jede Gefahrensituation erkannte und sofort Hilfe holte. Es gab die Augsburger Puppenkiste mit den “Mumins”, angesagt von Hilde Nockerl, die wusste, dass auf der anderen Seite des Bildschirms kleine Kinder saßen. Später gab es “Sport, Spiel, Spannung” mit Klaus Havenstein, wovon mich der SPORTteil nicht die Bohne interessierte. Das Schönste daran waren die SPANNUNGseinlagen mit “Dick und Doof”. Wie gut erinnere ich mich an das in witziger Mimik dem HÖRZU-Mecki ähnelnde Gesicht des Klaus Havenstein. Dieser war zugleich Mitglied der “Lach- und Schießgesellschaft”, von der keine Sendung verpasst wurde. Die durften wir auch sehen, wenn wir auch die politischen Witze, die unsere Eltern in Lachsalven ausbrechen ließen, meist nicht verstanden. Wenn ich die Augen schließe, kann ich meinen Bruder und mich gemütlich in je einem andersfarbigen und mit Boucléstoff bezogenen Sessel sitzen sehen, mit angezogenen Beinen und beide in kuschelige blaue Bademäntel gehüllt, auf denen gelbe Kreise lustig umeinander wirbelten. Natürlich hatte Mutti sie genäht.

Erlaubt waren auch die Familienshows am Samstagabend, etwa Hans-Joachim Kulenkampffs Quizsendung EWG (Einer wird gewinnen). Wer ihn als Kind sah, wird ihn wohl nie vergessen. Diesen charmanten, über Trauriges hinweglächelnden Moderator der beginnenden Fernsehära!

Das Tollste für uns Kinder war dann aber die Science-Fiction-Serie “Raumpatrouille Orion”, die wir mit allerhand kreativ umgestalteten Requisiten im Kinderzimmer nachspielten.

Im Laufe der Jahre vollzog sich ein sehr rascher Wandel im Konzept des Fernsehangebots. Und als fast 70-Jährige frage ich mich heute, was wohl ein Kind der Gegenwart in 60 Jahren von den Fernseheindrücken seiner Kindheit erzählen wird? Wird es sich bei der unüberschaubaren Vielfalt noch an einzelne Sendungen erinnern können? Werden Menschen der Jetztgeneration sich noch darüber austauschen, so wie wir es heute tun?

Only time will tell … und ich werde mich nicht mehr daran beteiligen. Das ist ganz sicher. Den Ausruf „Fernseeen? – Issam piepen!“ werde ich wohl bis zum Ende meines Lebens im Ohr haben, auch wenn der Fernseher heute gar nicht mehr piepen kann.

 

© Ulrike Nikolai 15.10.2021

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