Freitag, 28. Juli 2023

Briefe an einen Unbekannten -1-

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ZEITGEIST pur  

Lieber Großvater, lieber Opa?

Wie soll ich Dich nennen? Ich durfte Dich, seitdem ich auf der Welt bin, nicht ein einziges Mal berühren. Nur Deinen Sohn, der mein Vater ist. Er musste traurig von Dir Abschied nehmen, als er 15 Jahre alt war. Welche Tragödie für ihn, der als Dein einziger Sohn auf die Welt kam. So sehr hätte er seinen Vater gebraucht! Du hast große Stücke auf ihn gehalten. Du hast mich sehr überrascht mit diesen Worten, die Du meinem Vater – Deinem Sohn – zum 14. Geburtstag am 30.03.1943 – mitten im 2. Weltkrieg – geschrieben hast:

 

Zu Deinem 14. Geburtstage wünschen Mutter und ich Dir von Herzen Glück und Segen. Möge Dir das neue Lebensjahr Deine blühende Gesundheit und kraftvolle Entwicklung erhalten. Wir hoffen und wünschen aber auch, daß Du zu dem festen Entschluß kommst, alles daran zu setzen, einer der besten Schüler Deiner Klasse zu werden. Das hat gewiß mit Strebertum nichts zu tun, man kann trotzdem der beste Kamerad unter Kameraden sein. Für Dein höheres Fortkommen ist die gute schulmäßige Vorbildung aber die Hauptbedingung. Die fällt aber nicht vom Himmel, sondern muß hart erarbeitet und erkämpft werden. In diesen Sachen wirst Du doch später nicht den Vorwurf der Feigheit ertragen wollen. Du bist, das wirst Du im Vergleich mit gleichaltrigen Kameraden selbst feststellen können, mit Gaben des Geistes und der Körperkräfte vom Schicksal so reichlich bedacht worden, daß es Dir keine Schwierigkeiten bereiten kann, Deine Leistungen an die Spitze der Klasse zu stellen.

 Bewahre Dir auch weiterhin ein reines Herz und Gewissen, so bietet sich Dir das Leben um so schöner. Deine Jugend fällt in die härteste Zeit der Prüfung des deutschen Volkes. Frohsinn und Freude sind z. Zt. seltene Weggenossen. Um Euch und um Eure Zukunft ringt das ganze deutsche Volk bald 4 Jahre lang mit den Mächten der Zerstörung. Mit dem Blick auf die dafür gebrachten Opfer muß es ein Leichtes sein, nun in Dankbarkeit seine äußerste Pflicht zu tun. Sieh Dir nur einmal Deine lb. Halbschwester an, wie tapfer und mutig trägt sie ihr schweres Los. Die Ungewißheit des Schicksals ihres Liebsten ist bald noch härter als eine Trauerbotschaft. Mit Blick und froher Hoffnung auf guten Ausgang in allen Sachen trägt sich auch Schweres um vieles leichter.

 Du hast uns bislang viel Freude gemacht, vor allem weil man Dir nachsagt, Du seiest ein gut erzogener, höflicher Junge. Sei aber in Zukunft äußerst darauf bedacht, diese Tugend weiter zu pflegen. Du trittst nun in das Zeitalter der Flegeljahre, da kommen natürlicherweise allzuleicht Entgleisungen vor. Wir hoffen aber, daß dieser Hinweis genügt, um Dir Deinen guten Ruf in dieser Beziehung zu wahren.

Auf Wiedersehen in 1 Woche!                                    

Dein lieber Vater.                          


Wie sehr, lieber Großvater, spricht aus diesem Brief die Gesinnung des Zeitgeistes der damaligen Zeit! Und doch weiß ich aus sicherer Quelle, dass Du dem damaligen politischen System im Geiste nicht gefolgt bist, nein, es sogar abgelehnt hast. Aber das durfte ja damals niemand offen sagen. Es regierte die Angst.

Und wie sehr erkenne ich Züge meines Vaters in Deinen Worten, Großvater … seine hohe Moral. Aber auch seine Güte!

Es macht mich manchmal traurig, dass ich niemals in Deine Augen schauen konnte, dass ich mit Dir keine erbaulichen Gespräche führen konnte wie mit meinem anderen Opa. Ob mich die Begegnungen mit Dir hätten anders werden lassen?

Die Antwort kennt nur der Himmel …
 

Dieses Gespräch mit meinem Opa-selig soll weiter fortgesetzt werden. Ich fand Fotos, Zeugnisse, andere Dokumente und Briefe von ihm im Nachlass meiner Eltern. Die Funde und was ich von ihm weiß, möchte ich zu einem unvollständigen Puzzle zusammensetzen.

Eine spannende Tätigkeit!

Donnerstag, 27. Juli 2023

Briefe an einen Unbekannten -2-

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Annäherung

W. B. 1920
Lieber Großvater,

heute schreibe ich Dir meinen zweiten Brief, zu dem mir eine genaue Adresse für den Umschlag fehlt. Wohin soll ich ihn schicken? Wo wohnst Du? Dem Raum-Zeitlichen als Körper entflohen bist Du. Lange, bevor ich die irdische Seinsebene betrat. Und doch bist Du in dieser unsichtbaren Form, wenn ich überhaupt von Form sprechen darf, im Irdischen präsent. Gerade jetzt. Durch mich. Deine Gene sind Teil meines Körpers. Sie verändern die Welt. Die irdische Welt. Durch mein Tun. 

Dass Du durch mein Schreiben mein Gegenüber wirst, das diesen Brief zu lesen bekommt, findet nur in meinem Herzen statt. Und das nicht einmal durch Erinnerungen, die ich an Dich habe, sondern durch einen – wie soll ich es nennen – schriftstellerischen Kunstgriff: Ich setze meine innere Vorstellung von Dir an einen fiktiven Ort im Jetzt, wo ich Dich den Brief öffnen sehe. Ja, so kann es gehen.

Bereits mit meinem ersten Brief habe ich beschlossen, der Welt zu zeigen, wer Du warst. Zumindest in dem Rahmen, der sich meinem Nachforschen erschließt. Es sind zunächst nur sehr wenige nebulöse mündliche Überlieferungen eines Mannes, der Dich nur 15 Jahre lang kannte. Mein Vater. Es sind zudem Hinterlassenschaften, die mein Vater aufgehoben hat und die ich nach dem Tod meiner Eltern von ihrem Dachboden mitnahm. 

Dein Sohn, lieber Großvater, er ist schon seit nunmehr 11 Jahren in Deine Seinsebene getreten. Es geht ihm wohl recht gut, denn einmal erschien er mir von dort und erklärte mir, wo er sich befindet und wie das ist, wenn man gestorben ist. Ich werde es nie vergessen! Diese Begegnung hatte etwas Finales und öffnete mir ein riesiges Tor zu ihm. Das Tor zum Licht – das IN UNS IST.

Dir dagegen nähere ich mich anders. Stück für Stück und mit faszinierendem Erfolg! Es ist so faszinierend, dass ich der Welt davon erzählen möchte. Ja, ich möchte der Welt erzählen, wie Du mir mehr und mehr vertraut wirst. Ich habe doch keinen anderen Weg, als in den alten Sachen zu kramen, sie in die Hand zu nehmen, zu fühlen. Als könne ich mit geschlossenen Augen die Welt sehen, in der Du gelebt und gewirkt hast.

Im ersten Brief zeigte ich der Welt, wie großen Wert Du auf Disziplin legtest. Du hattest – mit einem Nachwort von Oma – Deinem 14-jährigen Sohn einen Geburtstagsbrief geschrieben. Zu dem Zeitpunkt hattest Du Deinen 50. Geburtstag schon eine Weile hinter Dir und somit schon viel Lebenserfahrung. 

Vielleicht warst Du gerade in einer – wie man es heute nennen würde – Midlifecrisis und hofftest, dass zumindest Dein einziger Sohn Deine noch unerfüllten Lebensträume realisieren würde. Von Landwirtschaft war darin nicht die Rede. Was vermutlich mit Deinen eigenen Erfahrungen zusammenhing. Davon wird noch die Rede sein.

Ich möchte Dir nun in der kommenden Briefserie erzählen, wie es mir gelingt, Dir – Opa – mehr und mehr näherzukommen. Es wird sehr spannend. Wart’s ab …

In unsichtbarer Liebe,

Deine (einzige) Enkeltochter

Briefe an einen Unbekannten -3-

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Der erste aufschlussreiche Fund

Lieber Opa,

da Du mir langsam immer vertrauter wirst, möchte ich Dich jetzt so ansprechen wie ich meinen anderen Opa angesprochen habe. Ihm gebührte derzeit ja als Einzigem diese Ansprache, da Du für mich quasi nicht existiertest. Ich brauchte keine Unterscheidung zwischen Opa H. und Opa W., denn ich kam als Kind niemals auf die Idee, Dich anzusprechen. Warum eigentlich nicht? Wenn ich mich in die Zeit zurückfühle, dann warst Du weit weit weg und wie hinter einer Mauer verborgen. Hinter einer Mauer des Schweigens. Hinter einer Mauer, die nun Risse bekommt und die ich in ein Geschichtenhaus umwandle, in dem Du jetzt noch einmal wohnen darfst. Dort besuche ich Dich und erzähle Dir, wie ich Dein Haus in meinem Herzen aufgebaut habe und noch weiter aufbaue. Ja, stell Dir mal vor, Du bekommst nochmal einen ganz neuen Weg hierher. Davon zu erzählen, ist für mich eine große Freude. 

Wie fing das eigentlich an? höre ich Dich jetzt fragen.

Nun … am Anfang stand der Himmelsgang Deiner Schwiegertochter, meiner Mutter. Dein Sohn war schon neun Jahre früher ins Unsichtbare gegangen und ich hatte die Aufgabe, das Haus meiner Eltern auszuräumen, um es für einen Verkauf vorzubereiten. Bei der Aktion musste ich streng sortieren. Fokussierte mein Bruder, Dein einziger Enkel, sein altes Spielzeug, das er als Nostalgiker sehr wertschätzte, waren es für mich alte Dokumente, die mir würden erzählen können, wie meine lieben Ahnen gelebt und gewirkt haben.


So kamen einige Kartons, Ordner und Kästen zu mir nach Hause. Ich hatte in der Phase gar keine Zeit, mich damit zu befassen, gönnte mir nur abends nach getaner anstrengender Räumarbeit immer wieder mal ein Bonbon aus dem Mitgenommenen. 

 


Ich empfand dieses Stöbern darin spannender als einen guten Krimi. Es ließ mir die Haut kribbeln, manche Zusammenhänge besser verstehen und sehr viel Respekt vor dem Tun von Euch Altvorderen entwickeln. Was für harte Zeiten!

So kam es, dass ich an einem Abend diesen Brief an Deinen Sohn entdeckte, von dem ich Dir schon erzählte. An einem späteren Abend fand ich ein Zeugnis von Dir. Ich weiß nicht mehr, in welcher Kiste oder in welchem Ordner. Aber ich weiß noch, wie sehr mich der Text dieses Zeugnisses beeindruckte. Geschrieben hatte es der Besitzer eines Bauernhofes, bei dem Du für zwei Jahre als Verwalter eingestellt warst. Ich drehe den Kalender zurück und lande in der Spanne von 1909 bis 1911. Als im Jahr 1890 Gebürtiger warst Du in der Zeit rund 20 Jahre alt. Ich staune! Als Zwanzigjähriger hast Du quasi als rechte Hand eines Landwirts dessen Hof verwaltet! Und dann das Zeugnis … ich zitiere:

Herr B. hat in dieser Zeit unter meiner Leitung dem Betrieb vorgestanden und mich zeitweise vertreten. Nebenher war er noch Vorgesetzter von fünf anderen jungen Herrn, die hier die Landwirtschaft lernten. Ich muss Herrn B. in jeder Beziehung das beste Zeugnis ausstellen …

Dabei fällt mir Dein Geburtstagsbrief wieder ein: Disziplin, Leistung, Bester werden … warst das Du? War es die Zeit? Mit dieser Frage schließe ich heute … 

Deine Enkeltochter

 

Leser und Leserinnen äußerten sich zu diesem Brief:

Beeindruckend, was du da einerseits in alten Dokumenten erfahren darfst und andererseits, was du in deinen Geschichten weiter ver- und bearbeitest! Ich wünschte, es gäbe irgendwo auch von meinen (unbekannten) Großeltern alte Briefe, Dokumente usw. Gerne würde ich mehr über sie erfahren ... (p)

Es ist sehr eindrücklich und bewegend, wie Du von Deinem Opa erzählst. (T. L.)

Ein schöner posthumer Kontakt sozusagen. (lh)

Ein altes Dokument, aus dem du eine bewegende Geschichte spinnst ... (S. M. W.)

Einfach schön, was du alles findest und so einfühlsam schreibst. (C. S.-S.)

Sehr schön beschrieben, wie du dich deinem fernen Großvater näherst und er schließlich doch noch zu einem Opa wird! (r)