Mittwoch, 19. Mai 2021

Schönes Leinen - oder: Die Inkompatibilität der Zeiten

Im Wäscheschrank meiner Eltern fand ich Aussteuerwäsche der feinsten Art. Solides Leinen, schweres Leinen. Ich hievte die Kilopacken aus dem Kleiderschrank und hielt nur einen ganz kleinen Teil davon auf einem Foto fest. 
 

Na bitte, dachte ich, das ist ja noch nie benutzt worden! Und außerdem … wurden mir nicht von meiner Mutter in den ersten Jahren meines Erwachsenseins die soliden leinenen Geschirrtücher meiner Großmutter versprochen? Und zwar mit den Worten: Die sollst du mal haben?

Wann? Wenn ich selbst alt und gebrechlich bin? Wenn ich mich in ein Seniorenheim begebe, wo ich dann endlich die tolle Wäsche nutzen kann?

Meine Mutter selbst scheint sie nie benutzt zu haben, was mich nicht wundert, denn dieses Verhalten kenne ich von ihr. Schon lange. Zuerst werden die alten Sachen aufgebraucht. So lange, bis sie völlig verschlissen sind.

Dementsprechend war es nur logisch, auch das gute Leinen im Schrank zu horten, bis es eines Tages … ja, was eigentlich?

Okay, dachte ich nach der überraschenden Entdeckung, ich zeige zwar selbst schon deutliche Verfallsspuren, aber noch ist es nicht zu spät. Noch können diese schönen Textilien ihrer Verwendung zugeführt werden.

Gedacht – gehandelt. Ich griff mir ein paar Probestücke, die ich zum Waschen mit nach Hause nahm. Messertücher, Geschirrtücher. Mehr nicht.

Ich freute mich irgendwie auf die schöne Wäsche. Warum sollte die nicht in unsere gemütliche Landhausküche passen?

Ich hängte erst mal ein paar Exemplare auf die Leine, um sie zu begutachten.


Wie schön! dachte ich, als ich die Initialen meiner Großmutter darauf entdeckte. Der Großmutter, die zwei Jahre vor meinem Erscheinen starb. Hier hätte ich nun eine greifbare Verbindung zu ihr.

Ich schaute auf die eingewebten Bilder. Aber nein, wie skurril! Eine Katze, die wie durch eine Glasscheibe bricht und nach zwei Vögeln springt, die aufgeregt davonflattern. Spiegelgleich rechts und links von dem gebogenen Schriftzug „Küchentuch“. Was hat denn solch eine grausame Szene in der Küche zu suchen?

Dann fiel mir auf, dass die Tücher ein ganz ungewöhnliches Format haben. 46 x 110? Was soll das denn? Dabei muss man sich doch etwas gedacht haben? Völlig inkompatibel mit den Maßansprüchen einer heutigen Küche!

Ich erinnere mich an den Handtuchhalter, der in den 50er-Jahren in der Küche meiner Eltern hing. Dort wurden die Geschirrtücher hinter einer Art Vorhang versteckt, der über eine Stange drapiert war. Und die Tücher dahinter hatten eine ordentliche Länge, viel länger als die heutigen Tücher. Vielleicht war es sogar grundsätzlich damals üblich, Geschirrtücher eher über eine Stange zu hängen.

Ich suche ein Foto aus meiner Kindheit. 1957. Unsere Küche in der Mietwohnung unterm Dach. Da hab ich’s! Eine Art Regalbrett, darunter eine Stange, die von einem herabhängenden Stoff umhüllt ist. Hinter diesem Stoff wurden die Geschirrtücher aufgehängt. Schäbig lugten sie unter dem hübsch drapierten „Vorhangstoff“ heraus.


Oder hingen sie auf einer eigens dafür angebrachten Wandhalterung? Sie bestand aus einer Plastikhalbkugel (auf dem Foto am rechten Rand oben), aus dem Zaubermaterial der Nachkriegszeit (ich weiß wovon ich rede, denn mein Vater arbeitete in der diesbezüglichen, rasant boomenden Wirtschaft). Aus dieser Halbkugel hingen vier Stäbe heraus, die man um 90° nach oben drehen und fixieren konnte. Daran wurden über dem warmen Ofen die Windeln getrocknet. Oder auch mal die Geschirrtücher? Von dem Katzentuch sähe man in dem Fall zwei schöne Seiten, je nachdem, von wo man guckt.

Ich nehme eines und probiere es in unserer Küche aus. Dazu verwende ich die Stange der Backofentür. Na also! Geht doch! Und es gefällt mir, weil es zu unserer Landhausküche passt.

Nun hängte ich in großer Vorfreude erst mal ein anderes Exemplar auf die Leine. Auch dieses Stück erschien mir wieder ungewöhnlich lang. Auch das dritte … in das sehr geschmackvoll rote Streifen eingewebt sind.


Und dann diese Messertücher – wozu hat man die eigentlich verwendet? Nur zum Abtrocknen von Messern? Damit die Geschirrtücher keine Löcher bekamen? Was für eine irrwitzige Idee! Ein Schontüchlein zum Schonen des großen Tuchs. So wie das Häkeldeckchen zum Schonen der Sofalehne. Ja, so wurde manchmal noch das Schonmaterial mit neuem Schonmaterial geschont. Hauptsache, man konnte die Gebrauchsspuren nicht sehen. Entsprach dies dem Denken der Kriegsgeneration? Schamkomponenten des Lebens werden versteckt, unter den Teppich gekehrt. Eine allgemein verordnete Ordnung war gefälligst einzuhalten. Wer dem nicht folgte, der wurde „hinten herum“ angezeigt. Überhöhte Ideale wurden propagandaartig in die Hirne der Menschen gehämmert und mit rollenden „r“s durch die Vorfilme posaunt. Die Katastrophe wurde vorprogrammiert und stürzte eine ganze Generation materiell ins Verderben, die nachfolgenden noch in psychische Bedrängnis.

Wie im Großen, so im Kleinen.

So also sieht das Messertuch aus. Was mache ich damit? Abwarten …

Einige Tücher wollte ich ja nun probewaschen. Zuerst die naturweißen mit den roten Farbelementen. Das ging sehr gut. Zwar fand ich nach dem Trocknen auf der Oberfläche ein paar baumwollartige Faserflöckchen, aber nach dem Mangeln sahen die Tücher sehr schön aus und fühlten sich auch nicht mehr so hart an.

Die zweite Charge kam in die Maschine. Es waren sehr kompakte Tücher, hart, brettig und sehr schwer. Gerade deswegen nahm ich an, es handle sich um das Beste, was es an Leinen geben kann. Ein kleines aufgeklebtes Papierschildchen, das ich von der ersten Charge abgezogen hatte, klärte mich über das Material auf:

Diese Ware ist nach dem Weben nicht appretiert, sondern nur gemangelt. Sie wird daher nach jeder richtigen Wäsche schöner.

Also rein damit in die Maschine! „Richtig“ waschen! Ein gutes Pulverwaschmittel in den Einfüllschacht, 95° einstellen und ab ging’s!

Ich saß im oberen Stockwerk am PC, als ich die Waschmaschine summen hörte. Dabei hatte ich den Timer mit dem Fertig-Signal doch gar nicht eingestellt. Auch war der Ton ein anderer als gewohnt, denn er wiederholte sich in kurzen Abständen. Schnell lief ich die zwei Treppen hinunter in den Keller um nachzusehen. Fehlermeldung: Ablauf verstopft, klärte mich die Digitalanzeige auf.

Ich schaute durch das Bullauge ins Innere der Maschine. Au weia, was für eine braune Brühe! Auf der Wasseroberfläche schäumte noch eine dicke Lage aufgelösten Waschpulvers. Was tun? Ich konnte die Maschine ja nicht einmal öffnen. Nun, wenn der Ablauf verstopft ist, dachte ich, dann muss ich irgendwie den Ablauf wieder frei bekommen. Ich studierte die Gebrauchsanweisung der Maschine rauf und runter und las, dass man bei dieser Fehlermeldung das Flusensieb reinigen müsse. Also löste ich das Kläppchen, das sich vor dem Flusensieb befindet und drehte das Sieb heraus. Nun ergoss sich ein riesiger Schwall Wasser auf den Boden der Waschküche, der praktischerweise mit einem Ablaufgulli versehen ist. Trotzdem drehte ich erst mal das Sieb wieder hinein und holte Schieber und Lappen, um die gesamte nun ablaufende Wassermenge zu kanalisieren.

Dazu brauchte ich mindestens eine Viertelstunde, bis das ganze Wasser abgelaufen und der Boden wieder trocken war, dann erst nahm ich mir das Flusensieb vor und schaute es mir genau an. Oh je! So viel graues Faserzeugs! Es fühlte sich an wie eine ganze Handvoll nasser Baumwolle, quasi direkt von der Pflanze gepflückt. Halbleinen – klar! Die andere Hälfte dürfte aus Baumwolle bestehen. Und die Tücher waren halt noch nie gewaschen worden. Aber ich fand auch viele feine Fasern darin, die an Stroh erinnerten. Zumindest pieksten sie wie Stroh. Ich nahm die klatschnassen Tücher aus der Maschine, trug sie in einer Plastikschüssel nach draußen auf die Terrasse und legte sie über einen Wäschetrockner. Dabei erst sah ich, dass der ganze Stoff durchzogen war von solchen sticheligen Fasern. Es mussten Reste von grob verarbeiteten Flachsfasern sein, die ich auf keinen Fall in meinen Geschirrtüchern haben wollte.

Ich ließ also die Tücher an der Sonne trocknen und gab sie dann zurück ins Elternhaus, von wo aus sie der Entrümpler ihrer Bestimmung zuführen darf. Sie waren ja voller Seifenschaum und in die Maschine wollte ich sie kein zweites Mal geben. Nein, ein solches Beinahe-Sackleinen mag ich nicht in meiner Küche, wenn sich diese auch Landhausküche nennen darf.

Quintessenz:

Alte Textilien sind mit modernen praktischen Maschinen nicht kompatibel. Alt und neu verträgt sich nicht.

Ich fand noch einen Stapel rot-weiß-karierter Geschirrtücher, auch alle nagelneu, aber von wesentlich feinerer Qualität. Diese habe ich ohne Probleme in die Kochwäsche geben können und sie werden mir einen zukünftigen Kauf von Geschirrtüchern für alle Zeit ersparen.

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