Freitag, 21. Mai 2021

Ein schöner Brauch?

Manche Fundstücke erzeugen eine richtige Gänsehaut. 

Ist das nun ein Schatz oder kann das weg? fragte ich mich, als ich in einer Ecke meines ehemaligen Jugendzimmerschranks eine 4711-Schachtel entdeckte. 

Aus meinem Geruchsgedächtnis stieg eine Erinnerung hoch, die mich mit meiner *Vatermutter verband.

*Zur Erläuterung: Ich verwende in meinem Blog gern die norwegische Art der Benennung der Großeltern, bei denen z. B. die Mutter des Vaters farmor genannt wird, was den Vorteil hat, dass man das Großelternteil dem entsprechenden Elternteil in einem Wort zuordnen kann.

4711 - bedeutet für mich: Übelkeit. Ich war nicht nur einmal mit meiner Oma im sonntäglichen Gottesdienst. Merkwürdigerweise wurde ihr genau dort oft schlecht. Sie murmelte dann etwas von "ach - meine Galle", holte ein umhäkeltes Stofftaschentüchlein hervor, dazu ihren Flakon mit 4711, sprühte etwas davon auf das Taschentuch und hielt es sich unter die Nase.

Da ich als Kind wohl schon sehr empathisch war, war nach kurzer Zeit nicht nur meiner Oma übel, sondern auch mir selbst. So verknüpfte sich für mich der Duft von 4711 mit dem Gefühl von Übelkeit. Ich kann Kölnisch Wasser bis heute nicht riechen, nicht, weil ich meine Oma nicht mochte, sondern im Gegenteil - weil ich sie mochte und weil sie es gegen Übelkeit benutzte.

Was sollte mich nun beim Fund dieser Schachtel erwarten? 

Neugierig öffnete ich sie ... WOW!!!

Zwei säuberlich gebündelte und sehr dichte Haarlocken! Ich fasste vorsichtig hinein ... es fühlte sich an wie Engelshaar. Wem mochte das wohl gehört haben?

Ich meine mich ganz schwach erinnern zu können, dass meine Mutter mir mal etwas von einer Haarlocke ihres Bruders erzählt hat. Sollte dieses Haar von meinem im Krieg gefallenen Onkel S. stammen? Oder von meiner Mutter, die ich leider nicht mehr fragen kann, da sie sich vermutlich nicht mehr erinnern wird. Sie ist in einem Zustand, in dem sie sogar ihren eigenen Sohn siezt. Späte Form von Alzheimer - so wurde ihr von einem Arzt attestiert. Zwecklos ... und wenn nicht, dann könnte es sogar ein altes Trauma aufreißen, denn noch Jahrzehnte nach dem Tod ihres Bruders bekam meine Mutter nächtliche Schreianfälle, in denen sie nach ihrem verstorbenen Bruder rief.

So mache ich mich selbst auf die Suche ...

Ich will wissen, wer in seiner Kindheit solches Haar hatte. Und ich suche nach Fotos in meinen digitalen Fotoalben:

Kinderfoto von Onkel S. - passt!

Kinderfoto meiner Mutter - passt!

Kinderfoto meines Bruders - 
auf dem Arm von Vatermutter -
passt!

Kinderfoto von mir - passt nicht!

Wenn ich nun kombiniere, könnten die Locken von nur einem Kind sein. Von meinem Onkel S., von meiner Mutter oder von meinem Bruder. Oder es sind zwei Locken von zwei Kindern. Dann sind es vermutlich die Locken der Geschwister (Mutter und Onkel). Was spricht dafür?

Auch ausgiebige Recherchen im Internet verraten mir nicht, zu welcher Zeit diese 4711-Schachteln verkauft wurden. 
 
Ich gebe auf ... ich bekomme keine klare Antwort auf meine Frage: Wem gehörte dieses Haar?
 
Also treffe ich eine kurze und klare Entscheidung: Dieses Fundstück kann weg! Loslassen ist angesagt!

Eine innere Verbindung zu dem Menschen, der dieses Haar auf dem Kopf hatte, ist nämlich  nur dem möglich, der sicher weiß, wem es gehörte. Was lediglich einer Frage an einen weiteren Menschen bedarf - an meinen Bruder. Vielleicht hat er ja noch Antworten und möchte es noch aufbewahren.
 
 
Ein paar Worte zum Brauch des Aufbewahrens von Haarlocken:
 
Haare gelten für viele Menschen als Träger der Lebenskraft eines Menschen. Dies ist aus alter volkstümlicher Vorstellung überliefert. Man kann ja auch beobachten, dass das Haar von Verstorbenen noch weiterwächst, was wohl dazu führte, Haare mit magischen Kräften in Verbindung zu bringen.

Das dürfte aber weniger der Grund dafür sein, warum man beim ersten richtigen Schnitt des Haares seines Kindes beim Frisör eine Locke der abgeschnittenen Haare aufbewahrte. Dieser Brauch des Aufbewahrens von Kopfhaar verbreitete sich insbesondere im 19. Jahrhundert, als Haarlocken von geliebten Menschen oft in einem eigens dafür gefertigten Medaillon aufbewahrt wurden.
Heute noch ist es sehr verbreitet, die ersten Haare seines Kindes in einer Erinnerungskiste aufzubewahren.

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